Gottesdienst 10.12.2023

Dann, als der Anruf kam, als die Polizei vor der Tür stand, als die Nulllinie auf dem Monitor zu sehen war, als du Dein Kind nicht lebendig zur Welt bringen konntest, als du es leblos gefunden hast: Dein Kind, euer Kind, ist ums Leben gekommen, ist gestorben, dann wurde alles anders – von einem Moment auf den anderen.

Du hörst es, du siehst es, aber du glaubst es nicht, du kannst und willst es nicht wahrhaben. Fühlt sich an wie ein schlechter, falscher Film. Du heulst, du schreist, du verstummst, du erzählst immer und immer wieder von den letzten gemeinsamen Momenten. Du machst dir Vorwürfe: „Ach, hätte ich doch“ …. Ihr klagt euch gegenseitig an: „Warum hast du …?“

Und dann musst du organisieren und funktionieren: Bestatter anrufen, Verwandte anrufen, immer wieder die gleiche Geschichte erzählen, die anderen dann trösten, mit der Pfarrerin reden, die Beerdigung besprechen.

Du stehst unter Strom, hast Adrenalin im Blut. Heulst, schreist: ich will mein Kind zurück. Das ist doch alles nicht wahr.

Die Beerdigung, die Trauerfeier. Mein Kind ist gestorben, begraben. Ich will ganz dicht bei meinem Kind sein, das doch so fern ist, hoffentlich auf dem einen Stern dort oben, bei Oma und Opa.

Es gilt nicht mehr so viel zu regeln. Und du brichst zusammen. Ich kann nicht mehr, allmählich, nach Wochen, begreifst du: Mein Kind ist wirklich gestorben, sie kommt, er kommt wirklich nicht mehr zur Tür herein. Du wirst nicht mehr seine Stimme hören, nicht mehr miterleben, was sie macht und tut. Nur noch die Erinnerung: So hat sie sich bewegt, so hat er gedacht. Keine gemeinsame Zukunft mehr, keine guten und schlechte Zeiten mehr miteinander.  Aushalten, bis wir uns am Ende der Tage wiedersehen – oder mir das Leben nehmen, um wieder beisammen zu sein – dort, im Himmel.

Du wirst krank: der Magen drückt, der Rücken schmerzt, das Herz sticht, kannst nicht mehr schlafen und dich in Ruhe erholen.  Du leidest, die Seele leidet, der Körper leidet.

Verwandte und Freunde reagieren gereizt: ‚Schon wieder die gleiche Geschichte. Immer und immer wieder. Sollen wir sie, ihn darauf ansprechen oder lieber ablenken? Ruhig bleiben und einfach nur zuhören, Stille und das „Warum? ohne Antwort“ miteinander ertragen? Was sagen – aber was? Will sie, will er Ruhe und für sich trauern oder wollen sie Besuch und Unterhaltung? Miteinander ins Kinderzimmer sitzen oder raus gehen und was unternehmen?

Du weißt selbst nicht, was du willst.  Du meinst, du wirst noch verrückt, kannst Dich nicht kontrollieren. Das Wirrwarr an Gefühlen, Gedanken, Schmerzen überkommt dich, raubt dir fast alle deine Kräfte. Immer und immer wieder – schlagartig, unerwartet.

Du räumst das Kinderzimmer leer, um nicht immer wieder erinnert zu werden.

Du lässt das Kinderzimmer wie es war, um dich immer und immer wieder zu erinnern, sie zu riechen und zu sehen, ihm nahe zu sein und mit ihm zu sprechen.

Du hast nur noch Kraft und Gedanke für Dein Kind, alles andere ist unwichtig.

Auch dein Mann, deine Frau. Er will wieder Nähe, sie kann nicht. Sie will sich austoben, sich einem Rausch hingeben, vergessen wollen für Momente. Nicht die Traurigkeit zu Hause und auch nicht den anderen ertragen.

War‘s miteinander vorher schon nicht gut, wird’s nachher auch nicht gut. Streit. Zank. Trennung.

Die anderen Kinder wollen auch versorgt sein, wollen kuscheln, wollen sprechen, wollen weiterleben, wollen ihr Leben leben.

Du bist gefordert. Werde ich ihnen gerecht?

Du bist überfordert. Lasst mir doch meine Ruhe.

Du bist nicht mehr die Alte. Du bist nicht mehr der von früher. Freunde bleiben fort. Du magst auch nicht mehr auf Familienfeiern gehen, nicht mehr in die Gruppe. Das Gerede ist dir zu laut, das Geschwätz zu oberflächlich. Du gehst, wenn es dir zuviel wird oder du gehst erst gar nicht mehr hin.

Du gehst zur Arbeit, musst Leistung bringen, dich konzentrieren, kannst nicht grübeln, und wenn doch, Mitarbeiter verstehen’s, der Chef lässt dich gehen, wenn du nicht mehr kannst.

Du gehst zur Arbeit, und kannst nicht mehr die Leistung bringen, du kündigst, dir wird gekündigt. Und was dann? Wo kommt das Geld jetzt her? Es geht an die Substanz.

Du suchst und findest allmählich, nach Jahren, was dir gut tut. Ein neues Hobby, bei dem du nicht so viel reden musst, gärtnern und garteln, einen Sport, bei dem du dich austoben kannst. Du machst irgendwas für andere, denen du eine Freude bereiten kannst. Du freust dich, wenn sie dich sehen, wie du ihnen und dir selbst gut tust.

Du findest Gleichgesinnte, andere, die auch ihr Kind verloren haben. Ihr versteht euch, könnt gut miteinander reden, miteinander trauern, miteinander still sein, miteinander eure Kinder in den Wolken und Sternen am Himmel sehen, wie sie euch begleiten auf euren Wegen.

Du bist sensibler geworden, andere, fremde Personen vertrauen sich dir an, erzählen dir ihre Geschichte. Wie kann das sein? Wertvolle Begegnungen, manchmal nur einmal, aber unvergesslich.

Es wird wieder anders, allmählich. Nicht wie damals von einem Moment auf den anderen, sondern nun schrittchenweise, kaum merklich.

Du verabredest dich wieder mit einer alten Freundin, mit einer neuen Freundin, einfach so, ihr geht ins Kino gehen, unternehmt mit anderen eine Wanderung, du ziehst dir was Buntes an, machst Dich schick. Du suchst nach einem neuen Auto, ihr macht eine Reise, du ziehst dir eine rote Mütze zu Nikolaus auf. Du postest Bilder von einem erfreulichem Erlebnis. Du schmunzelst erst vorsichtig über dich und andere, dann fängst du wieder an zu lachen.

Du hast den Ort gefunden, an dem du trauern kannst, wenn’s dir danach zumute ist. Du lässt zu, dass dir auch mal wieder die Kräfte schwinden und dich die Sehnsucht nach deinem Kind überkommt. Du gestehst dir diese bedrückenden Zeiten ein, weil du weißt, es kommen dann auch wieder andere, leichtere Zeiten.

Hast du früher Gott angeklagt: „Warum hast du mir mein Kind genommen?“ kannst du nun beten: „Behüte und bewahre es liebevoll in deinen Armen – bis wir uns wiedersehen.“

Du hast einen anderen Weg, andere Wegbegleiter gefunden, du gehst nun deinen neuen Weg. Und du spürst: So kann ich weiterleben.    

(Neckarsulm, 10.12.2023, Pfr. Jürgen Stauffert, juergen.stauffert@elkw.de)